Die Entscheidung
Ich verschluckte mich beinahe an meinem Kaffee, als ich die Zeitung aufschlug. Das musste doch eine Verwechslung sein. Das Bild war etwas unscharf, vielleicht irrte ich mich auch. Meine Augen rasten über die Wörter des Artikels und da stand es. Oskar H.. Ein Foto von ihm im Gerichtssaal und die große, fast schon bedrohlich wirkende Überschrift "Ehemaliger KZ-Aufseher vor Gericht". Ich lehnte mich in meinem Sessel zurück und starrte aus dem Fenster. Draußen war es kalt geworden und die Bäume verloren langsam ihre Blätter. Die Fenster waren geschlossen, dennoch spürte ich einen kalten Wind, der sich über meinem ganzen Körper ausbreitete und mich zum Zittern brachte. Nachdem ich mich aus meinem Schockzustand befreien konnte, schossen mir die Erinnerungen an Oskar wieder in den Kopf. Ich hatte ihn letztes Jahr durch das Programm des Altersheimes kennengelernt und ihn seitdem regelmäßig besucht. Wir waren spazieren, einkaufen und haben Kartenspiele gespielt. Außerdem half ich ihm regelmäßig dabei Nachrichten seiner Tochter auf seinem Handy zu öffnen und ihr zu Antworten.
Ich hielt es in meiner Wohnung nicht länger aus und entschloss mich dazu einen Spaziergang zu machen. Ich zog meinen Mantel an, schlüpfte in meine abgelaufenen Sneakers und nahm noch schnell eine Mütze vom Regal, bevor ich meinem Mitbewohner zurief: „Ich bin eben kurz was erledigen“ und die Tür hinter mir zu zog. Doch was hatte ich überhaupt zu erledigen? Ich ging eine Weile planlos umher, bis mir das Denkmal im Park wieder einfiel. Der Weg war noch matschig vom Regen der letzten Tage und die meisten, die an mir vorbeiliefen, gingen mit gesenktem blicken und schnellen Schritten. Ich hingegen schlenderte die Wege entlang und schaute mich nach den Bäumen um, als wolle mein Körper nie am Ziel ankommen. Doch das half nicht, nach etwa zwanzig Minuten stand ich vor dem Denkmal. Auf dem Sockel standen etliche Namen. Namen derer, die im zweiten Weltkrieg von hier verschleppt und getötet wurden. Ich las ein paar Namen, versuchte mich auf einzelne zu konzentrieren, mich an die Individualität derjenigen zu erinnern und sie nicht zu einer großen Masse verschwimmen zu lassen. Doch nach einer Weile hielt ich es nicht mehr aus und setzte mich auf die nächst gelegenste Bank.
Während die Kälte der Bank durch mich zog und mich betäubte, kam mir Oskars Gesicht wieder in den Sinn. Sein freundliches Lächeln und die Art und Weise wie er mir zuzwinkerte, wenn die Pflegerin reinkam, um zu gucken ob bei ihm alles in Ordnung sei. Die Zärtlichkeit mit der sein alter Körper mich zur Begrüßung umarmte und seine ruhige Stimme, die sich zum Abschied immer für meinen Besuch bedankte. Ich zog die Zeitung aus meiner Manteltasche und begann den Artikel zu lesen. Er las sich wie jede andere Täter Biografie, die ich in der Schule zu genüge gehört hatte. In einfachen Verhältnissen aufgewachsen. Mitglied in der Hitlerjugend. Machte Karriere innerhalb des Regimes. Stieg schließlich zum Aufseher im KZ Buchenwald auf. Doch der Mann, den ich erlebt hatte, war kein kaltblütiges Monster, das Menschen qualvoll umbrachte und sie solange arbeiten ließ, bis sie tot umfielen. Er war ein lieber, alter, gebrechlicher Mann, der wirklich niemandem Angst machte. Hunderte von Fragen fesselten meine Gedanken und ließen mich an nichts Anderes mehr denken. Hatte er sich verändert und ich konnte das geschriebene deshalb nicht mehr mit ihm in Verbindung bringen? Oder war er immer noch derselbe, der sich mir gegenüber nur so verhielt, weil ich deutsch war und nicht dem jüdischen Glauben angehörte? Versteckte er seinen Hass? Hatte er eine Wahl? Konnte er sich überhaupt erinnern? Wussten seine Kinder davon? Doch was mir am schwersten in den Knochen lag war, dass ich nicht wusste, ob ich ihn am nächsten Dienstag, wie jeden Dienstag, besuchen sollte. Wie sollte ich mich verhalten? Sollte ich die Umstände Tot schweigen? Wie würde er auf eine Konfrontation reagieren?
Es war schließlich das Knurren meines Magens, dass mich aus den Fesseln meiner Gedanken entriss. Ich blickte auf die Uhr und stellte erschrocken fest, dass ich schon fast eine Stunde auf der Bank saß. Ich entschied somit, mich auf den Rückweg zu machen und mir bei der Bäckerei um die Ecke ein Brötchen mitzunehmen. Es zogen langsam wieder Regenwolken auf und der Park war Nahe zu Menschen leer. Diesmal ging also auch ich mit gesenkten Blick und schnellen Schritten zurück. Zu dem Zeitpunkt an dem ich die Bäckerei erreichte regnete es bereits in Strömen. Ich änderte deshalb kurzer Hand meinen Plan und setzte mich an einen kleinen Tisch im inneren der Bäckerei, um mein Brötchen und ein kleines Stück Kuchen zu essen.
Während ich dem Regen zusah, der auf die Straßen einprasselte breitete sich ein ungutes Gefühl in meinem Körper aus. Eine Spekulation oder gar eine Tatsache, die ich während meines gesamten Gedanken Karussells verdrängt hatte, war dafür verantwortlich. Wenn dieser Mann so lieb und harmlos auf mich wirkte. Wenn dieser Mann gar kein Monster war, wofür ich sie immer gehalten hatte. Wenn er ein Mensch war, genau wie ich. Ein Mensch, der sich nur seinen Umständen angepasst hatte. Was unterscheidet ihn dann von mir? Was bedeutete es, wenn es keinen Unterschied gibt? Wäre ich ein Täter gewesen? Hätte ich das Gleiche getan? Wäre ich dazu fähig? Wenn ich mir vor Augen hielt, dass ich nach der NS-Ideologie nur ihnen zum Opfer gefallen wäre, wenn ich Widerstand ausgeübt hätte, erhöht dies die Wahrscheinlichkeit, dass ich Täter gewesen wäre. Schließlich befand sich der Widerstand in einer deutlichen Minderheit. Ich wusste nicht, warum ich dies nicht schon viel früher erkannt hatte. Ich wäre kein Opfer gewesen. Ich wäre ein Täter gewesen. Die Erkenntnis, dass ich mich vielleicht den selben Taten, wie Oskar, schuldig gemacht hätte, bereitete mir Angst. Trotzdem konnte ich den Gedanken nicht beiseitelegen. Ich musste mich immer wieder an die Grausamkeiten, Ursachen und Auswirkung des Handelns jedes einzelnen, an Opfer und Täter des Nationalsozialismus erinnern. Nur so würde es mir möglich sein mich anders zu verhalten. Mich in Zukunft für Menschenrechte und gegen Hass zu entscheiden und damit Rassismus zu bekämpfen, war für mich ab diesem Zeitpunkt zu einer Pflicht geworden. Denn Täter zu werden war auf einmal so leicht, so nah und fast schon bequem und unvermeidbar. Das konnte ich nicht zulassen.
Die Regenwolken draußen waren verschwunden und die Sonnenstrahlen reflektierten in den Pfützen, die der Rege hinterlassen hatte. Ich trat auf die Straße und ging die letzten 200 Meter zurück zu unserer Wohnung. Mein Mitbewohner empfing mich schon im Flur „Wo warst du denn so lange? Das Spiel fängt gleich an, die anderen sind schon alle da“. Doch er erwartete keine Antwort und ging direkt wieder ins Wohnzimmer zu den Anderen. Ich streifte meine Sneakers ab, hängte meinen Mantel auf und legte die Mütze wieder aufs Regal. Anschließend brachte ich die Zeitung noch schnell in mein Zimmer.
Am folgenden Dienstag klopfte ich nervös an Oskars Zimmertür. Ich war mir nicht sicher, wie ich mich heute Verhalten würde. Ich war aber überzeugt davon ihn nicht einfach zu vergessen, denn ich hätte er sein können und das durften nicht passieren.
Ich habe mich für meinen kreativen Beitrag für das Projekt für die Textsorte der Kurzgeschichte entschieden. Ich möchte den Leser damit ansprechen und mit auf einen gedanklichen Pfad nehmen. Die Kurzgeschichte bot mir dabei als Format den größten Freiraum und eine Art dem/der Leser/in keine Position aufzuzwingen, sondern ihre eigene Interpretation des gelesenen zu entwickeln. Um dies zu erreichen, ist die Kurzgeschichte in der Ich Form verfasst, damit es leichter fällt sich mit dem/der Protagonisten/in zu identifizieren. Mit der Beschreibung der Umgebung möchte ich hingegen eine ruhige Atmosphäre kreieren und durch Wetterveränderungen die Stimmung des Protagonisten darstellen. Ich habe mich zunächst mit der Fragstellung beschäftigt „Warum sollte ich mich überhaupt Erinnern?“ um eine mögliche Antwort dann literarisch aufzuarbeiten. Inhaltlich bin ich deshalb dazu gelangt, dass ich auf die Wichtigkeit hindeuten möchte sich an die Geschehnisse während der NS-Zeit zu erinnern, nicht nur aus Respekt den Opfern gegenüber, sondern um sein eigenes Verhalten konkret zu reflektieren. Diese Reflektion kann, wie in meiner Kurzgeschichte, dazu führen, dass man erkennt, man wäre vermutlich selbst Täter gewesen. Diese Erkenntnis ist so wertvoll, da man durch diese genau jenes Szenario in Zukunft vermeiden kann. So kann man Warnzeichen im eigenen Denkmuster für Hass, Ausgrenzung und Desensibilisierung gegenüber Gewalt frühzeitig erkennen. Diesen Aspekt soll meine Kurzgeschichte dem Leser/in vermitteln, indem sie ihm nicht vorgeschrieben wird, sondern er/sie mit auf die Reise zu der Erkenntnis genommen wird.
Ich versuche damit also, nicht die immer wieder beleuchtete und auch höchst relevanten Frühwarnzeichen im politischen Klima wahrzunehmen und diesen entgegen zu steuern, sondern viel mehr einen Blick auf sich selbst und das eigene Verhalten und Denkweisen zuwerfen.